Überprüfungspflicht des Gesetzgebers 2 BvE 1/21, 2 BvE 3/21
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht – Zweiter Senat – Anträge der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands und der Bayernpartei e. V. gegen den Deutschen Bundestag auf Feststellung, dass dieser die Rechte der Antragstellerinnen verletzt oder unmittelbar gefährdet hat, indem er es unterließ, die Vorschriften des Bundeswahlgesetzes zur Vorlage von Unterstützungsunterschriften wegen der durch die COVID-19-Pandemie geänderten tatsächlichen Umstände auszusetzen oder durch Absenkung der Quoren anzupassen, mangels ausreichender Begründung verworfen. Die Antragstellerinnen haben jeweils die Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf Chancengleichheit durch das Unterlassen einer Aussetzung der Anwendbarkeit von §§ 20 Abs. 2 Satz 2, 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG oder einer Absenkung der Zahl der nach diesen Vorschriften für die Zulassung eines Kreiswahlvorschlags oder einer Landesliste beizubringenden Unterstützungsunterschriften bei der Bundestagswahl 2021 durch den Antragsgegner nicht hinreichend substantiiert dargelegt. In seiner Begründung hat der Senat darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber unter den tatsächlichen Bedingungen der Covid-19-Pandemie zur Überprüfung der geltenden Unterschriftenquoren verpflichtet ist.
Sachverhalt:
Die Antragstellerinnen sind politische Parteien, die derzeit weder in einem Landtag noch im Deutschen Bundestag vertreten sind. Sie wenden sich im Wege des Organstreitverfahrens dagegen, dass der Deutsche Bundestag es bislang unterlassen habe, wegen der geänderten Rahmenbedingungen politischer Kommunikation infolge der COVID-19-Pandemie die gesetzlichen Regelungen der Unterstützungsunterschriften im Hinblick auf die Bundestagswahl 2021 auszusetzen oder zu ändern.
Parteien, die nicht im Bundestag oder in einem Landtag seit deren letzter Wahl ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren, können gemäß § 18 Abs. 2 BWahlG nur dann an der Bundestagswahl teilnehmen, wenn der Bundeswahlausschuss ihre Parteieigenschaft festgestellt hat. Fällt eine Partei in den Anwendungsbereich dieser Norm, benötigt sie zudem Unterstützungsunterschriften für Kreiswahlvorschläge sowie für die Aufstellung von Landeslisten. Kreiswahlvorschläge politischer Parteien benötigen die Unterstützung von 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises, die den Kreiswahlvorschlag persönlich und handschriftlich unterzeichnen müssen (§ 20 Abs. 2 Satz 2 BWahlG). Landeslisten politischer Parteien sind von 1 vom Tausend der Wahlberechtigten des Landes bei der letzten Bundestagswahl, höchstens jedoch von 2.000 Wahlberechtigten, persönlich und handschriftlich zu unterzeichnen (§ 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG).
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die Anträge sind unzulässig.
Die Antragstellerinnen sind nicht antragsbefugt, da sie die Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG nicht in einer den Begründungsanforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG genügenden Weise dargelegt haben.
- Nach § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG sind Anträge, die ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einleiten, zu begründen; die erforderlichen Beweismittel sind anzugeben.
Wird im Organstreitverfahren eine Verletzung organschaftlicher Rechte durch gesetzgeberisches Unterlassen gerügt, hat der Antragsteller die dafür geltenden besonderen Voraussetzungen substantiiert darzulegen. Dabei ist davon auszugehen, dass grundsätzlich die Befugnis, nicht aber die Verpflichtung besteht, Gesetze zu erlassen beziehungsweise zu ändern. Dies schließt indes nicht aus, dass ausnahmsweise Gesetzgebungspflichten bestehen, die sich aus einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes sowie aus Vorgaben des Unionsrechts ergeben können. Soweit dem Grunde nach eine Handlungspflicht des Gesetzgebers besteht, ist ihm bei der Wahrnehmung dieser Pflicht in der Regel ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet. Wird der Erlass einer konkreten Regelung eingefordert, ist daher substantiiert zu begründen, warum der dem Gesetzgeber grundsätzlich zukommende Gestaltungsspielraum auf den Erlass der eingeforderten Regelung verengt ist.
- Nach diesen Maßstäben haben die Antragstellerinnen die Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG nicht hinreichend substantiiert begründet.
- a) Sie legen zwar hinreichend dar, dass das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG einen Eingriff in ihr Recht auf Chancengleichheit beinhaltet.
- b) Auch weisen sie zutreffend darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung wahlrechtliche Unterschriftenquoren für sachlich gerechtfertigt erachtet hat, wenn und soweit sie dazu dienen, den Wahlakt auf ernsthafte Wahlvorschläge zu beschränken und so der Gefahr der Stimmenzersplitterung vorzubeugen. Die Beschränkung des Wahlaktes auf ernsthafte Wahlvorschläge dient der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und soll die Wahlberechtigten davor bewahren, ihre Stimmen für aussichtslose Wahlvorschläge abzugeben. Dies rechtfertigt es, anzuordnen, dass parlamentarisch nicht vertretene Parteien den Nachweis der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme durch die Vorlage einer bestimmten Zahl an Unterstützungsunterschriften zu führen haben.
- c) Die Antragstellerinnen haben hinreichend erläutert, dass die pandemiebedingten, auf nicht absehbare Zeit fortbestehenden Kontaktverbote und -beschränkungen eine Veränderung der tatsächlichen Rahmenbedingungen für das Sammeln der erforderlichen Unterstützungsunterschriften darstellen. Es ist offenkundig, dass die Beibringung der Unterstützungsunterschriften unter erheblich erschwerten Bedingungen stattfinden muss, da die herkömmliche Art des Sammelns von Unterschriften im öffentlichen Raum (direkte Ansprache, Infostände, Versammlungen) nur deutlich weniger effizient durchgeführt werden kann.
- d) Soweit die Antragstellerinnen aus der Veränderung der tatsächlichen Rahmenbedingungen für die Beibringung von Unterstützungsunterschriften eine Verpflichtung ableiten, die Anwendbarkeit von § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG nicht nur zu überprüfen, sondern auszusetzen oder zumindest die Höhe der Unterschriftenquoren für die kommende Bundestagswahl abzusenken, genügen ihre Darlegungen den Begründungsanforderungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2
BVerfGG jedoch nicht. - aa) Zwar stellen die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen und die damit verbundenen Rückwirkungen auf die politische Kommunikation im öffentlichen Raum eine wesentliche Veränderung der tatsächlichen Ausgangslage dar, die der Gesetzgeber beim Erlass der Regelungen zur Beibringung von Unterstützungsunterschriften zugrunde gelegt hat. Der Gesetzgeber ist daher gehalten zu prüfen, ob eine unveränderte Beibehaltung der Unterschriftenquoren zum Nachweis der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme einer nicht in den Parlamenten vertretenen Partei weiterhin erforderlich ist oder ob deren Wahlteilnahme hierdurch übermäßig erschwert wird.
- bb) Daraus folgt indes nicht ohne Weiteres, dass der Antragsgegner auch verpflichtet ist, bei der Bundestagswahl 2021 die Anwendbarkeit von § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG vollständig auszusetzen. Dass es verfassungsrechtlich geboten ist, bei der bevorstehenden Bundestagswahl auf das Erfordernis der Beibringung von Unterschriften vollständig zu verzichten, wird von den Antragstellerinnen nicht nachvollziehbar dargelegt und ist auch in sonstiger Weise nicht ersichtlich.
- cc) Ebenso genügen die Ausführungen der Antragstellerinnen nicht, um zumindest die Verengung des Gestaltungsspielraums des Antragsgegners auf eine Verpflichtung zur Absenkung der Zahl der für eine Teilnahme an der Bundestagswahl erforderlichen Unterstützungsunterschriften zu begründen. Die Antragstellerinnen legen nicht ausreichend dar, dass der Antragsgegner aufgrund der pandemiebedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen politischer Kommunikation zu einer solchen Anpassung der Regelungen zur Wahlteilnahme nicht im Parlament vertretener Parteien verpflichtet ist.
(1) Mit den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Maßstäben für die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit von Unterschriftenquoren für parlamentarisch nicht vertretene Parteien setzen sich die Antragstellerinnen nicht substantiiert auseinander.
(2) Es fehlt an einer substantiierten Darlegung, dass der Antragsgegner davon ausgehend aufgrund der pandemiebedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen politischer Kommunikation überhaupt zur Anpassung der Regelungen zur Wahlteilnahme von nicht in den Parlamenten vertretenen Parteien verpflichtet ist.
(a) Angesichts der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts, wonach die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und das sich daraus ergebende Erfordernis des Nachweises der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme unter normalen Umständen Unterschriftenquoren bis zu 0,25 % der Wahlberechtigten zu rechtfertigen vermögen, bleibt die gesetzliche Regelung in § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG deutlich hinter dieser Obergrenze zurück. Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG bedürfen Landeslisten lediglich der Unterstützung von 1 vom Tausend, höchstens von 2.000 der Wahlberechtigten des jeweiligen Landes bei der letzten Bundestagswahl. Auch § 20 Abs. 2 Satz 2 BWahlG ist mit dem Erfordernis der Unterstützung durch mindestens 200 Wahlberechtigte des Wahlkreises an dieser Größenordnung orientiert, da sich die durchschnittliche Zahl der Wahlberechtigten pro Bundestagswahlkreis auf 206.000 beläuft und gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises nicht um mehr als 15 vom Hundert von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise abweichen soll. Damit hat der Gesetzgeber den Gestaltungsspielraum, der ihm von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Festsetzung der Höhe der Unterschriftenquoren unter normalen Umständen eingeräumt wird, bei weitem nicht ausgeschöpft. Folglich kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass bei einer Erschwerung der Beibringung der erforderlichen Unterstützungsunterschriften die Beibehaltung der gesetzlichen Quoren die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen überschreitet. Vielmehr wäre es erforderlich gewesen, nachvollziehbar zu begründen, dass aufgrund der pandemiebedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen für das Sammeln von Unterstützungsunterschriften die Wahlteilnahme der nicht im Parlament vertretenen Parteien hierdurch praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird und dass daher der Antragsgegner von Verfassungs wegen zur Absenkung der gesetzlichen Unterschriftenquoren verpflichtet ist.
(b) Das kann dem Vortrag der Antragstellerinnen nicht in ausreichendem Maße entnommen werden. Sie beschränken sich insoweit im Wesentlichen auf die bloße Behauptung, aufgrund der angeordneten Kontaktverbote und -beschränkungen sei die Beibringung der erforderlichen Unterschriften „massiv erschwert, wenn nicht gar im Einzelfall unmöglich“. Dies ist nicht ohne Weiteres plausibel. So trägt eine der beiden Antragstellerinnen vor, sie verfüge in Bayern über 5.000 Mitglieder. Warum es ihr angesichts dessen nicht möglich sein soll, die gesetzlichen Unterschriftenquoren zu erfüllen, erschließt sich nicht. In diesem Zusammenhang fehlt es auch an einer Auseinandersetzung mit dem für die Beibringung von Unterstützungsunterschriften zur Verfügung stehenden Zeitraum von mehr als einem Jahr und an einer Darlegung, ob bei deutlicher Absenkung des Quorums der Nachweis der Ernsthaftigkeit der Wahlteilnahme noch als geführt angesehen werden kann.
(3) Selbst bei Annahme einer dem Grunde nach bestehenden Pflicht zur Anpassung der gesetzlichen Regelungen an die pandemiebedingten Einschränkungen der politischen Kommunikation im öffentlichen Raum hätte es einer gesonderten Begründung für die Verengung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers auf eine Pflicht zur Absenkung der Unterschriftenquoren gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG bedurft. Auch daran fehlt es.